Migration spaltet nicht nur Europa, sondern auch Deutschland – wenn auch anders als gemeinhin angenommen. Zu diesem Ergebnis kommt die neue Studie des Mercator Forums Migration und Demokratie (MIDEM), die auf der MIDEM Jahrestagung am 27. und 28. November in Berlin vorgestellt wurde.
Die Keynote mit dem Titel „Democracy, Demography and Migration in Europe“ hielt der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev, Autor der Bücher „Europadämmerung“ und „Das Licht, das erlosch“. Krastev erklärte die Ablehnung von Migranten vor allem in Osteuropa unter anderem mit dem Trauma der Abwanderung der jungen Generation. Das Versprechen des Liberalismus tröste nicht über den Weggang der Kinder und Enkelkinder hinweg, die – teilweise in Scharen – die Heimat verließen. Die Arbeit vor Ort verrichteten nun Migranten – dass diese das Wahlrecht bekämen, sei weder im Interesse der jeweiligen Regierungen noch im Interesse der Regierten, die um ihre Werte fürchteten. Wenn die im Land Zurückbleibenden den Westen dämonisierten, sei das eigentlich eine Botschaft an ihre emigrationswilligen jüngeren Verwandten: „Bleibt!“
Der Riss durch Europa zeigt sich deutlich bei den Einstellungen zu Migration. In den ehemals sozialistischen Staaten stoßen Zugewanderte und insbesondere Muslime auf mehr Ablehnung als im Westen. Dies thematisierten die Autorinnen und Autoren des Jahresberichts MIGRATION UND EUROPA (English Excerpt) beim Round Table am 28. November. Für die Jahresstudie hatten sie u. a. die Wahlkämpfe zum Europäischen Parlament 2019 in verschiedenen europäischen Ländern analysiert. Migration zählt immer noch zu den wichtigsten politischen Themen in der EU und wird vor allem von rechtspopulistischen Parteien instrumentalisiert.
Migration spaltet auch Deutschland – allerdings sind die Einstellungen der Ostdeutschen gegenüber Zugewanderten deutlich positiver als in anderen mittel- und osteuropäischen Regionen und entsprechen eher dem Niveau Westeuropas. Bei Vorbehalten gegenüber Muslimen sind Ostdeutsche hingegen eher den Mittel- und Osteuropäern zuzurechnen. Eine Sonderrolle nehmen auch Westdeutsche ein: Ihre Einstellungen gegenüber Zugewanderten sind im Durchschnitt deutlich positiver als die anderer Westeuropäer.
Bei seinem Abschlussvortrag „Drehen wir uns im Kreis? Experten und Migrationspolitik in Europa“ skizzierte Gerald Knaus, Vorsitzender der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI), ein Pilotprojekt, das er für Baden-Württemberg und Gambia entwickelt hat: Eine humanitären Ansprüchen genügende Reduzierung von Migration könne nur durch intensive bilaterale Zusammenarbeit zwischen Aufnahme- und Herkunftsland gelingen; dazu seien ein Abschiebemoratorium, Ausbildungsmöglichkeiten im Aufnahmeland und ein „Ausreisestopp“ im Herkunftsland nötig. Wenn ein solches Modell einen Erfolg zeige, könnten sich andere Länder in ähnlichen bilateralen Kooperationen zusammenfinden. Das sei eine Möglichkeit, realistisch aus dem Hamsterrad von misslungenen Migrationsstrategien auszubrechen.
Andreas Blätte (MIDEM), Christian Joppke (Universität Bern) und Ursula Münch (Akademie für Politische Bildung Tutzing) kommentierten und diskutierten anschließend die Thesen von Gerald Knaus.
An der internationalen zweitägigen Konferenz beteiligten sich 160 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Wissenschaft, Verwaltung und Medien. Die sich an Vorträge und Round Table anschließenden lebhaften Diskussionen gaben Anregungen für die weitere Forschung und Impulse für Politik und Medien.
Vortrag und Diskussion: „Demokratie in Gefahr? Der neue Rechtspopulismus und seine Ursachen“
Eine Gruppe des Kommandos Luftwaffe der Deutschen Bundeswehr besuchte Forum MIDEM. Maik Herold sprach mit den 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmern über die Ursachen von Rechtspopulismus und Rechtsextremismus. Dabei ging es unter anderem um die Vertrauenskrise zwischen Repräsentanten und Repräsentierten und die Rolle von Parteien und Journalismus sowie um den Einfluss von Wandlungsprozessen wie der Globalisierung, dem Strukturwandel der Öffentlichkeit und der Verschiebung der Aufmerksamkeit von Politikerinnen und Politikern in Richtung sozialer Medien. Anschließend diskutierten die Soldatinnen und Soldaten mit Maik Herold über die Auswirkungen dieser Thematik auf die freiheitlich demokratische Grundordnung und Fragen im Hinblick auf die Bundeswehr: Welche Position nimmt sie im institutionellen Gefüge ein? Wie sollte in der Zukunft über Auslandseinsätze entschieden werden?