Vortrag: „Das Versprechen der Freiheit und das unzufriedene Volk“ – Prof. Dr. Detlef Pollack (Universität Münster)
Gemeinsam mit MIDEM-Direktor Prof. Dr. Hans Vorländer diskutierte Prof. Dr. Detlef Pollack die Ursachen und Folgen der ostdeutschen Enttäuschungserfahrungen und beleuchtete die Rolle der Freiheit in der heutigen Zeit.
Freiheit als Zumutung
Revolutionen bringen Freiheitsversprechen mit sich, doch oft bleibt die Realität hinter den Erwartungen zurück. „Freiheit ist nicht nur ein Versprechen, sondern auch eine Zumutung“, betont Hans Vorländer in seiner Einführung. Freiheit müsse geschützt, institutionell gesichert und gegen autoritäre Versuchungen verteidigt werden.
Vom Wendeoptimismus zur Ostdeutschen Enttäuschung
Pollack erinnert an das Jahr 1989, als die DDR „leichten Herzens“ aufgegeben wurde. Die Ostdeutschen wollten den Staat nicht reformieren, sondern loswerden. Als es jedoch um die Entscheidung zwischen dem Recht auf Arbeit und der sozialen Marktwirtschaft ging, entschied sich die Mehrheit für Letztere.
Doch die anfängliche Euphorie verwandelte sich in den 1990er Jahren zunehmend in Ernüchterung. Der Zusammenbruch von 70 Prozent der Industrieproduktion, der Verlust eines Drittels der Arbeitsplätze und die Zerstörung von Millionen Biografien hinterließen tiefe Spuren. Besonders hart traf es Menschen im Alter von 45 bis 54 Jahren, die sich kurz vor dem nächsten Karriereschritt sahen, stattdessen jedoch mit Arbeitslosigkeit konfrontiert wurden. Mit den verlorenen Jobs verschwanden nicht nur Einkommen, sondern auch Stolz und Selbstverständnis. Enttäuscht von der Politik zogen sich viele Menschen ins Private zurück – eine Reaktion auf das Gefühl der Ohnmacht und den Bruch des arbeiterlichen Selbstbewusstseins.
Relative Deprivation als Motor
Heute, so Pollack, sind die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland längst nicht mehr so groß. Dennoch erleben viele Ostdeutsche ihre Lage schlechter, als sie objektiv ist. Hinter dem Aufstieg der AfD steht weniger eine tatsächliche Benachteiligung als vielmehr das Gefühl der „relativen Deprivation“ – der Eindruck, im Vergleich zu anderen im Nachteil zu sein. Bei AfD-Wählerinnen und -Wählern ist diese Wahrnehmung besonders ausgeprägt.
In einer Studie unterscheidet Pollack zwischen „Verteidigern“ und „Entdeckern“. In Ostdeutschland zählen die „Verteidiger“ 40 Prozent – doppelt so viele wie im Bundesdurchschnitt. Diese Gruppe vertritt ein enges Zugehörigkeitsverständnis, fühlt sich durch Fremde bedroht, sieht sich marginalisiert und misstraut den Institutionen. Die „Entdecker“ hingegen treten für Offenheit ein, fühlen sich repräsentiert und sind zufriedener mit der Demokratie. Aus dieser Perspektive erscheinen AfD-Erfolge weniger als Folge realer Benachteiligung, sondern eher als Symptom eines Gefühls von Bedrohung, Marginalisierung und Politikverdrossenheit.
Streit um die Einheit
Im anschließenden Gespräch hinterfragt Hans Vorländer den fehlenden gemeinsamen Verfassungsakt. Pollack entgegnet: Zum Glück sei der Osten nicht gleichberechtigt gewesen, denn ohne die sozialistischen Experimente hätte man die Diktatur und Planwirtschaft nicht mit Demokratie und Marktwirtschaft gleichsetzen können. Vorländer räumt ein, dass diese Debatte heute überholt sei. Tatsächlich sei die Zustimmung zur Verfassung im Osten heute hoch – ein Befund, den die MIDEM-Grundgesetz-Studie zuletzt bestätigte.
Pollack hebt hervor, dass die Politik den Bürgerinnen und Bürgern mehr zumuten müsse. Man dürfe den Klagen über Benachteiligung nicht unkritisch folgen. Die Ostdeutschen, so Pollack, sollten auch einmal über sich selbst nachdenken.
Offene Frage
Diese Erkenntnisse werfen jedoch eine offene Frage auf: Lässt sich Ressentiment wirklich nur auf gefühlte Missstände reduzieren – und kann man es allein durch Appelle überwinden?